KATHARINA SCHLÄFT "El Che" (11) © 2009, Sonja Hubmann


Katharina trottete intuitiv die Gasse hinunter. Der Ärger über ihre beiden Klassenkameradinnen war dermaßen groß, dass sie ganz automatisch ihr Domizil ansteuerte. Unterwegs fiel ihr der frische Obst- und Gemüsestand einer alten Händlerin auf. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie hier schon öfters vorbeigekommen war. Das köstliche Warenangebot lockte mit südländischen Früchten. Katharina blieb stehen und bat um eine saftig aussehende Orange. Die zahnlose, aber rüstige alte Dame offerierte ihr allerdings einen ausgehöhlten Kürbis und lächelte charmant: „Hier, Catalina, ich habe frischen Mate-Tee für Dich. Da ist ein ganz besonderes Gewürz drinnen.“, pries sie den Drink geheimnisvoll an. 

Katharina starrte die freundliche Frau an und griff nach dem eigentümlichen Getränk. Obgleich ihr die Verkäuferin bekannt vorkam, kämpfte das Mädchen schon wieder mit ihren Erinnerungen. Sie widmete sich jedoch wieder dem Getränk, das sie eingehend begutachtete. Schließlich wagte sie einen Schluck. Ihr Geschmackssinn signalisierte ihr allerdings das Wörtchen „igitt“. Was war das denn? Grüner Tee mit Heuextrakten? Sie versuchte ihre innere Ablehnung gegen dieses Gebräu jedoch nicht zu zeigen und bedankte sich höflich: „Mmh, schmeckt gut.“, lobte sie den Inhalt der Kürbisschale mit leicht verzogenen Mundwinkeln. Während Katharina die Flüssigkeit mit dem Strohhalm verbissen in sich hineinsaugte, politisierten neben ihr zwei Männer über aktuelle Tagesthemen.

„Hast Du gehört“, begann der dickere der beiden seine Ausführungen, „dass schon wieder ein Schiff mit Juden hierher unterwegs sein soll?“ Sein hageres Gegenüber strich sich über seinen Schnurrbart und schob die Unterlippe nach vorne: „Du meinst die MS Jamaica? Ist die nicht schon in Buenos Aires eingetroffen?“ Sein Gesprächspartner kratzte sich an seinem schütteren Haaransatz und zuckte die Achseln: „Keine Ahnung, aber solange Santiago Peralta Chef der Einwanderungsbehörde ist, brauchen wir uns keine Gedanken über eine jüdische Invasion zu machen.“, beruhigte er den dürren Anzugträger. Dieser entgegnete mit einem sarkastischen Lachen: „Stimmt. Ich hoffe, Peralta bleibt uns noch recht lange erhalten. Ehrlich gesagt, mir sind zehn Nazis lieber als ein Jude.“

„Mir auch“, grinste nun auch der Beleibte und paffte an seiner dicken Havanna-Zigarre, „aber Perón wird ihn schon nicht absetzen. Schließlich profitieren wir doch alle davon, wenn wir uns vor unerwünschten Flüchtlingen schützen. Außerdem habe ich gelesen, dass sie in Deutschland die Verschiffung von 100.000 Juden nach Palästina zügig vorantreiben wollen“, informierte er seinen Kumpanen freudig. 
„Na hoffentlich“, brummte der Schnauzbärtige und tat einen tiefen Seufzer. 

Obwohl Katharina die Zusammenhänge dieses Gesprächs nicht genau verstanden hatte, reimte sie sich nun ihre eigene Version zusammen. Offenbar wollten jüdische Flüchtlinge nach Argentinien einwandern, was ihnen jedoch von dem Chef der hiesigen Einwanderungsbehörde nicht erlaubt wurde. Katharina seufzte nachdenklich, hatte aber im Augenblick überhaupt keine Lust über Politik nachzudenken. Sie überlegte, wie sie diesen Mate-Tee unbemerkt loswerden könnte. Noch viel stärker jedoch, beschäftigte sie ihr lückenhaftes Erinnerungsvermögen, von dem sie hoffte, es möglichst bald wiederzuerlangen. 

Sie schenkte der Obsthändlerin einen dankbaren Blick und setzte ihren Heimmarsch schnurstracks fort. Den halbvollen Kürbis samt Inhalt stellte sie der Einfachheit halber auf einen Mauervorsprung. Vielleicht würde ja jemand Gefallen an der grauenvollen Teemischung finden. Da mittlerweile auch ihr Groll gegenüber Julieta und Carla verschwunden war, überlegte sie nun, wie dieser Matías wohl aussehen könnte, an dem sie laut Natalia Interesse gezeigt hatte. Wenn sie tatsächlich für diesen Jungen schwärmte und ihn angeblich auch schon einmal Rugby spielen gesehen hatte, wieso konnte sie sich dann nicht an ihn erinnern? 

(Ende Teil 11 / Fortsetzung folgt)


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