KATHARINA SCHLÄFT "El Che" (22) © 2009, Sonja Hubmann

 

An Natalia ging die Insektengeschichte jedoch spurlos vorüber, da sie nur Augen für Ernesto hatte, den sie immer wieder in kleine Gespräche verwickelte. Seine Schwester Celia war ihr dabei jedoch keine besonders große Hilfe, bis zu dem Moment als auch sie von den Schilderungen ihres Vaters genug hatte: „Soll ich euch unser Haus zeigen?“, offerierte sie Natalia und Katharina schließlich spontan. Natalia erhob sich interessiert und erkundigte sich beiläufig bei Ernesto: „Kommst Du mit?“ Der angesprochene Junge schob etwas unschlüssig das Unterkiefer nach vorne und murmelte ein „ja“. Gerade jedoch, als auch Katharina aufstehen wollte, entschied sich Matías unerwarteter Weise dagegen: „Ich bleibe hier. Ich will diese Dschungel-Geschichte noch zu Ende hören.“ Katharina verwarf ihren Plan an der Hausführung teilzunehmen in der Sekunde und setzte sich wie auf einen stummen Befehl wieder nieder. Etwas unglaubwürdig murmelte sie an Natalia gewandt: „Ich will die Geschichte auch noch zu Ende hören.“ 

Im Zuge der sich langsam auflösenden Jugendgruppe, ergriff nun auch Tomás die Gelegenheit, sich von den anderen zu verabschieden: „Ich muss unbedingt nach Hause. Ich hab‘ noch eine ganze Menge zu lernen.“ „Kommst Du gar nicht auf die Party?“, erkundigte sich Ernesto erstaunt bei seinem Klassenkollegen. Dieser schüttelte ausweichend den Kopf: „Geht nicht, ich muss echt lernen, sonst schaffe ich die Prüfungen nicht, aber mein Bruder Alberto wird wahrscheinlich dort sein.“, prophezeite er. Ernesto nickte zufrieden: „Sehr gut.“ 

Nun erhob sich auch Roberto, allerdings nicht, um an der Hausführung teilzunehmen, sondern um seinen älteren Bruder zu einem kleinen Rugby-Training herauszufordern: „Komm schon, Ernesto, lass uns noch ein paar Tackles üben. Deine Schwester kann Natalia doch schon mal vorab durch ein paar Zimmer führen, oder?“ Natalia zeigte sich über diesen dreisten Vorschlag sichtlich verärgert. Wie konnte Roberto es wagen, ihren Schwarm zum Rugby spielen zu überreden, wo sie sich doch schon so auf seine Begleitung gefreut hatte. Ernesto fand den Vorschlag seines Bruders jedoch durchaus verlockend und reagierte prompt: „Na schön, wer schneller im Hinterhof ist.“ 

Kaum hatte er diese Wettkampfparole ausgerufen, schoss Roberto auch schon zur Türe hinaus. Ernesto blieb jedoch schelmisch stehen und genoss es, seinen Bruder hinaussprinten und über die Türschwelle stolpern zu sehen. Gemessenen Schrittes schlenderte er mit breitem Grinsen seinem soeben gegen den Türrahmen geknallten und nun schimpfenden Bruder hinterher, während Celia davon gänzlich unbeeindruckt die immer noch auf Ernesto starrende Natalia am Ärmel zupfte und gelangweilt seufzte: „Komm mit, die benehmen sich schon wieder wie kleine Kinder.“ Gemeinsam traten die Mädels zur angekündigten Hausinspektion an und wichen dabei der am Boden sitzenden 12jährigen Ana María aus, die ihren beiden jüngeren Geschwistern in, ausnahmsweise mal angemessener Lautstärke, ein neues Spiel erklärte.

Katharina wechselte nun ihren Platz, so dass sie etwas näher am Ehepaar Ferrer saß. Matías tat auf der gegenüberliegenden Seite dasselbe und rückte etwas enger an Celia Guevara heran, der er eine neuerliche Frage stellte: „Haben Sie das Haus im Dschungel ganz alleine gebaut?“ Ernesto Senior nippte an seinem Mate-Tee und wiegte den Kopf hin und her: „Nun ja, mit der Hilfe meiner Arbeiter. Wir haben es auf einem Hügel an einer Flusskrümmung des Paraná errichtet.“ "Das war bestimmt eine Menge Arbeit.“, vermutete Katharina beeindruckt. 

Das Ehepaar Guevara warf sich einen vielsagenden Blick zu und nickte fast simultan. Matías erkundigte sich weiter: „Wie alt waren Sie damals, als Sie dort hingezogen sind?“ Wieder fühlte sich der Herr des Hauses angesprochen und überlegte: „Nun, ich war 28, das war gleich nach unserer Heirat, stimmt’s, Celia?“, holte er sich von seiner Frau die Bestätigung, die schlichtweg bejahte. Nun steuerte auch Frau Ferrer ihre Meinung zu diesem Thema bei: „Also, ich hätte mich das nie getraut, so ganz alleine im Urwald zu leben, noch dazu mit einem kleinen Kind. Ernesto wurde damals ja erst geboren, oder?“

„Ja, er kam in Rosario zur Welt, aber wie ihr wisst, haben wir mit ihm fast zwei Jahre in Misiones verbracht. Ich muss sagen, es war eine harte, aber schöne Zeit.“, ergänzte Celia mit leichter Wehmut. Ihr Mann brummte ein verklärtes „ja, ja“ und widmete sich seiner Tasse Tee. Herr Ferrer seufzte mitfühlend: „Ich hätte ehrlich gesagt, auch nicht mit euch tauschen wollen, schon alleine wegen den sozialen Problemen, die es in dieser Wildnis gab.“ Ernesto Senior nickte betroffen: „Stimmt, einige Großgrundbesitzer haben mich sogar ‚Kommunist‘ geschimpft, weil ich meine Arbeiter nicht mit Gutscheinen, sondern Bargeld bezahlt habe.“ Katharina schob ihre endlich leer getrunkene Tasse zur Seite und wiederholte fragend: „Es gab Gutscheine?“

„Ja“, antwortete ihr brillentragender Gastgeber, „der Mensú, das ist ein Taglöhner, der wirklich Schwerstarbeit zu verrichten hatte, bekam von seinen Arbeitgebern oft nur Lebensmittel-Gutscheine. Die konnte er dann zu völlig überteuerten Preisen in den Läden gegen Waren eintauschen. Diese Läden gehörten natürlich den Großgrundbesitzern. Durch diese Ungerechtigkeiten entstand eine Menge Hass auf Seiten der Ausgebeuteten.“, erklärte Ernesto Senior. Katharina und Matías schenkten einander einen mitfühlenden Blick, der vielleicht um ein paar Sekunden zu lange gedauert hatte, denn Katharina fühlte plötzlich, wie die Wärme seiner kobaltblauen Augen tief in ihr Herz drang. Sie lächelte verlegen.

(Ende Teil 22 / Fortsetzung folgt)

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