KATHARINA SCHLÄFT "El Che" (25) © 2009, Sonja Hubmann

 

Gerade, als die Unterhaltung noch politischer zu werden drohte, kam Roberto mit schmerzverzerrtem Gesicht ins Zimmer gerannt: „Autsch, ich hab‘ mir den Finger verstaucht. Ernesto hat viel zu scharf geschossen.“, beklagte er sich bei seiner Mutter, die sich jedoch nicht besonders besorgt zeigte. „Zeig mal her“, forderte sie ihren Sohn auf und begutachtete seinen etwas angeschwollenen Mittelfinger. Nach eingehender Prüfung riet sie ihm emotionslos: „Halte ihn unters kalte Wasser.“ In diesem Augenblick erschien auch Ernesto im Raum und grinste provokant: „Er hat gesagt, ich soll schärfer schießen. Genau das habe ich getan. Er muss wohl noch lernen Schmerzen zu ertragen.“ 

Sein mitleidloser Blick erregte jedoch Frau Ferrers Gemüt: „Aber Du kannst doch nicht alle an Deiner eigenen Schmerzunempfindlichkeit messen.“, rügte sie ihn mit gebotener Zurückhaltung. Ernesto Senior schwang theatralisch seinen rechten Arm in die Luft, gestikulierte wie ein großer Feldherr und verlautbarte mit stolzgeschwellter Brust: „In Ernestos Adern fließt nun mal das Blut irischer Rebellen, spanischer Eroberer und argentinischer Patrioten. Er kennt keinen Schmerz und hat keine Angst vor Gefahren.“ 

Roberto, der soeben im Hinausgehen war, wandte sich nach dieser Bemerkung allerdings noch einmal mürrisch um und knurrte: „Ja, ja, immer ist Ernesto der Superheld, aber er hat es trotzdem mit Absicht getan.“, jammerte er uneinsichtig. Um die Situation wieder zu entschärfen und vermutlich auch auf Rücksichtnahme der leicht verdutzten Gäste, erinnerte sich der Übeltäter nun wieder an die Hausführung und lud Katharina und Matías zu einem kleinen Rundgang ein. Er wollte im Obergeschoss beginnen, da sich seine Schwester Celia und auch Natalia in einem der dortigen Zimmer aufhalten mussten. Nachdem die kleine Expedition nun drei Schlafzimmer und eine Terrasse gesehen hatte, stießen sie tatsächlich auf die beiden abtrünnigen Mädchen, die vor einem riesigen Bücherregal standen. 

In dieser Sekunde hörte man von unten Celia de la Serna nach ihrer Tochter rufen: „Komm bitte kurz herunter, Celia!“, ertönte ihre durchdringende Stimme. Aber auch das laute Organ ihrer Tochter fuhr einem durch Mark und Bein: „Ich komme schon!“, antwortete sie mit rollenden Augen und einem etwas unwilligen Seufzer. Währenddessen sich Celia mit gemächlichen Schritten nach unten begab, beäugten Matías und Katharina interessiert die wahrlich umfangreiche Bibliothek, die so an die 3000 Werke umfassen musste. Ernestos Gäste zeigten sich beim Anblick der zum Teil schon sehr abgegriffenen Bücher durchaus beeindruckt. Katharina hauchte ein begeistertes „wow“ und näherte sich ehrfurchtsvoll dem etwas staubigen Holzregal. 

„Hast Du die alle gelesen?“, erkundigte sie sich mit leuchtenden Augen. Ernesto lächelte provokant und nickte: „Ja, natürlich!“ Katharinas ungläubiger Blick fiel nun auf ihre beiden Begleiter, die amüsiert den Kopf schüttelten. Natürlich hatte Ernesto nicht alle 3000 Bücher gelesen. Das hätte sie sich ja wohl denken können. Leicht verärgert über diese freche Verspottung wandte sie sich wieder dem Regal zu, an das sich nun auch Matías herangeschlichen hatte. Natalia zeigte weniger Interesse an den dicken Wälzern. Viel mehr interessierte sie sich für den attraktiven, schwarzhaarigen Teenager, der ihr gerade eine Tasse Mate-Tee überreichte, ohne dabei jedoch seine anderen beiden neugierigen Besucher aus den Augen zu verlieren.

(Ende Teil 25 / Fortsetzung folgt)

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