KATHARINA SCHLÄFT "El Che" (26) © 2009, Sonja Hubmann


„Wofür interessierst Du Dich?“, wollte er nun von Natalia wissen. Die hübsche 15jährige räusperte sich verlegen und starrte unschlüssig auf die riesige Bibliothek, bis sie einfach wahllos ein Themengebiet nannte: „Poesie. Ich mag Gedichte!“, gestand Natalia. Ihr Angebeteter strich sich lässig über sein pechschwarzes Haar und trat dicht an Natalia heran. Theatralisch nahm er ihre zarte Hand und begann mit seinem Vortrag: „Para mi corazón basta tu pecho, para tu libertad bastan mis alas …“. 

Den Rest dieses Gedicht rezitierte er mit warmherziger Stimme, setzte allerdings immer wieder kantige Akzente, die seinen Vortrag noch fesselnder machten, zumindest für Natalia, die gebannt an seinen wohlgeformten Lippen hing. Auch Matías lauschte den Worten seines Schulkameraden und fixierte diesen mit seinen tiefblauen Augen. Einzig und alleine Katharina ließ sich von der weiteren Inspektion des Bücherregals nicht ablenken. 

Während Ernesto sein Herzblut in das wortgewaltige Gedicht legte, versuchte Katharina die Namen der Buchautoren zu entziffern. Da lehnten lateinamerikanische Schriftsteller wie Horacio Quiroga und Rubén Darío lässig an Karl Marx und Franz Kafka. Jack Londons Abenteuerromane hingegen steckten dichtgedrängt zwischen Jean-Paul Sarte und Albert Camus. Ein etwas abgeschlagenes Dasein fristete ein Buch mit dem Titel „Las flores del mal“ von Baudelaire. Es stützte seinerseits die abgegriffenen Werke von Sigmund Freud, Nietzsche und Lenin. Aha, da gab es sogar Bücher in französischer Sprache, wie zum Beispiel jene von Émile Zola, Alexandre Dumas, Stéphane Mallarmé oder Paul-Marie Verlaine. 

Während sich Ernesto immer noch seinem poetischen Erguss hingab, wanderte Katharinas interessierter Blick eine Etage tiefer, wo sie auf die Namen Pablo Neruda und Federico García Lorca stieß. Musste man die alle kennen? Gerade, als sie sich über ihr unheimliches Nichtwissen entsetzt zeigte, endete Ernestos Vortrag: „ … yo desperté y a veces emigran y huyen pájaros que dormían en tu alma.“ Natalia war vom Charme des jungen Mannes völlig hin und weg. Sie musste sich richtiggehend zwingen, ihren anhimmelnden Blick von Ernestos Lippen zu nehmen. Matías applaudierte beeindruckt und Katharina, tja, Katharina war endlich auf ein Buch gestoßen, das auch ihr ein Begriff war. 

Freudig erregt meldete sie ihre Entdeckung: „Ha, das Buch hier hab‘ ich auch gelesen, die Reise zum Mittelpunkt der Erde von Jules Verne“. Da sie aber von niemandem eine Reaktion erhielt, äugte sie verdutzt in die Runde. Matías lehnte andächtig am Bücherregal und ihre Natalias schwärmerischer Blick klebte immer noch an Ernesto, der ihr schließlich die Rätselfrage nach dem Autor des soeben vorgetragenen Gedichtes stellte. Natalia zeigte sich jedoch ahnungslos. Da auch von Katharina keine Antwort kam, gab Matías die Antwort: „Das war von Pablo Neruda. Mir gefällt dieses Werk auch sehr gut.“, gestand er. 

Katharina schenkte dem sonnengebräunten Blondschopf einen bewundernden Blick. Als Matías diesen erwiderte, zog sie verlegen den nächstbesten Gedichtband aus dem Regal und schlug ihn wahllos irgendwo auf. Sie murmelte aus dem englischsprachigen Werk die letzten paar Zeilen: „…if you can fill the unforgiving minute with sixty seconds‘ worth of distance run …“. Weiter kam sie nicht, denn den Rest übernahm Ernesto: „ …yours is the Earth and everything that’s in it, and – which is more – you’ll be a man my son!“ 

Katharina starrte ihn wie einen Außerirdischen an. War dies jetzt Zufall gewesen, oder wusste er tatsächlich, was in all diesen Büchern stand? Während sie diesem Mysterium auf den Grund zu gehen versuchte, lieferte Matías einmal mehr die passende Zusatzinformation: „Das war ‚If‘ von Rudyard Kipling.“ Katharina klappte das Buch fast ein wenig beleidigt zu. War sie wirklich so unwissend? Warum kannten die Jungs all diese Gedichte und Schriftsteller? Katharina ärgerte sich über ihre grenzenlose Ahnungslosigkeit und schwor sich, hinkünftig viel mehr Bücher zu lesen. 

(Ende Teil 26 / Fortsetzung folgt)

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