KATHARINA SCHLÄFT "El Che" (27) © 2009, Sonja Hubmann


Ernesto klopfte seinem Freund Matías auf die Schulter und blinzelte zeitgleich Katharina zu: „Na? Haben euch meine Eltern schon die wichtigsten Schauergeschichten über mich erzählt?“ Katharina schüttelte lächelnd den Kopf: „Nein, sie haben uns nur von der Mate-Plantage erzählt und dass ihr von dort weggezogen seid.“ Ernesto bestätigte diese Tatsache mit einem kurzen Nicken und setzte sich lässig auf einen im Raum befindlichen Holztisch, an dem bereits Natalia lehnte. Sichtlich erfreut über diese unerwartete Annäherung strahlte das dunkelhaarige Mädchen ihren Schwarm an. 

Da es ihr in Ernestos Gegenwart aber offenbar die Sprache verschlagen hatte, erkundigte sich Katharina weiter: „Und seit wann lebst Du hier in Córdoba?“ Ernesto glitt zu Natalias Enttäuschung wieder vom Tisch herunter und überlegte halblaut: „Also, im März 1942 begann ich hier im ‚Déan Fu‘ zu studieren …“ Mit Déan Fu‘ meinte er wohl seine Schule, das Colegio Nacional Déan Funes. Matías erinnerte sich mitfühlend: „Du Armer bist ja täglich mit dem Bus aus Alta Gracia angereist.“ Ernesto lächelte: „Ja, die lange Fahrt war echt nervig, aber als dann meine Schwester Celia aufs Gymnasium kam und mein Vater hier in Córdoba ein Jobangebot hatte, war es natürlich klar, dass wir hierhergezogen sind. Das war irgendwann im Sommer 1943.“ 

Natalia musste unweigerlich an den dreijährigen Juán Martín denken und folgerte: „Das heißt, Dein kleiner Bruder kam hier zur Welt?“ „Ja, der kleine Patatín wurde hier geboren …“, bestätigte er und versuchte das Verhör der beiden Mädchen abzukürzen, „…aber fragt mich jetzt bitte nicht, wie oft wir umgezogen sind, daran will ich mich gar nicht erinnern – von Caraguatay in Misiones nach San Isidro in die Calle Alem, dann nach Buenos Aires, Alta Gracia, hierher nach Córdoba und ich vermute fast, dass dies nicht meine letzte Station sein wird.“ Natalia rückte wie zufällig etwas näher an Ernesto heran und versuchte diese eindeutige Absicht mit einer harmlosen Frage zu kaschieren: „Du reist gerne?“ Der attraktive Junge zuckte unschlüssig die Schultern: „Nicht unbedingt, aber wenn die Umstände es erfordern, dann muss es eben sein.“ 

Katharina vermutete, dass er sich mit dem Wort „Umstände“ in erster Linie auf sein Asthma bezog, aufgrund dessen er immer wieder gezwungen gewesen war, sich in ein trockeneres Klima zu begeben. Katharinas Wissensdurst war damit jedoch noch lange nicht gestillt. Sie setzte die Befragung munter fort: „Und wo hat es Dir bis jetzt am besten gefallen?“ Ernesto zögerte keinen Moment mit seiner Antwort: „In der Villa Nydia, in Alta Gracia. Dort habe ich mich bisher am wohlsten gefühlt, aber natürlich gefielen mir die Sommer bei meiner Großmutter auch extrem gut. Sie lebte damals auf dem Land in Portela.“ 

Natalia begann sofort zu schwärmen: „Ich wäre auch gerne auf einem Bauernhof aufgewachsen, mit viel Natur und vielen Tieren.“ „Ja, ich habe dort erstmals gesehen, wie man Kälber schlachtet und Rinder brandmarkt.“, berichtete Ernesto stolz. Dass diese Offenbarung aber so gar nicht in Natalias paradiesisches Bild vom Landleben passte, war an ihrem geschockten Gesichtsausdruck leicht ablesbar. Auch Katharina verzog aufgrund dieser barbarischen Aussage ihre Mundwinkel. 

Da Ernesto seine sensiblen Gäste aber nicht komplett verstören wollte, fügte er noch lächelnd hinzu: „Aber ich habe auch gesehen, wie man Butter und Käse macht, oder Pferde zureitet.“ Diesen Gedankengang griff Natalia nun wieder gerne auf: „Reiten würde ich auch gerne mal lernen.“ In der Hoffnung, dass Ernesto nun eine diesbezügliche Einladung aussprechen würde, richtete sie ihren erwartungsvollen Blick an ihn, aber ihren Angebeteten plagte ganz offensichtlich ein anderes Problem. Mit etwas trockenem Mund starrte er gedankenverloren in sein leeres Mate-Tee-Gefäß. 

Dies genügte aber, um Natalia erneut auf den Plan zu rufen. Spontan griff sie danach und bot mit weicher Stimme an: „Ich hole Dir etwas Nachschub, wenn Du willst.“ Ernesto bedankte sich mit einem stummen Lächeln. Im selben Moment entschuldigte sich auch Matías, der einem unaufschiebbaren, körperlichen Drang nachgeben wollte und in Richtung Toilette marschierte.

(Ende Teil 27 / Fortsetzung folgt)

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