KATHARINA SCHLÄFT "El Che" (6) © 2009, Sonja Hubmann

„Madame Schwarz“, hob der genervte Lehrer zu einem süffisanten Tadel an, „sind wir schon wieder müde? Wenn Sie mein Unterricht so langweilt, dann werden Sie gleich Gelegenheit haben, mit Ihrem Wissen zu glänzen.“ Katharina zuckte zusammen. Mit Wissen glänzen? War das etwa die Androhung einer auf sie zukommenden Frage? Über Che Guevara wusste sie noch weniger als ihre Vorredner. Könnte sie diesem Debakel vielleicht noch irgendwie entgehen? Sie könnte eine plötzliche Übelkeit vortäuschen oder einen Migräneanfall? Nein, besser akute Magenschmerzen! Durchfall? Eine Herzattacke? 

Noch aber verharrte der bereits ins Schwitzen geratene Professor bei einer kerzengerade dasitzenden Blondine, die all seinen Ausführungen aufmerksam gelauscht hatte und nach der Nennung des Stichwortes „Granma“ ausführlich zu fabulieren begann: „Granma ist der Name jener Yacht, mit der Castro und Che Guevara mit etwa 80 Leuten nach Kuba aufgebrochen sind", erläuterte sie selbstbewusste und fuhr mit klarer Stimme fort, "Sie wollten von dort aus, die Revolution gegen Batista vorbereiten. Bei der Überfahrt lief das Schiff aber kurz vor der Küste auf Grund und wurde von der kubanischen Armee entdeckt. Castros Soldaten kamen bei dem darauffolgenden Bombardement fast alle ums Leben. Einige wurden gefangen genommen. Nur 15 Männer konnten in die Sierra Maestra fliehen. Dort entstand dann unter Beteiligung der ansässigen Bauern eine Guerillatruppe. Das war im Dezember 1956 …“ 

„Danke, danke, Frau Salzner. Genau so stelle ich mir eine Antwort vor.“, unterbrach der zum ersten Mal zufrieden lächelnde Professor die kluge aber leicht arrogant wirkende Vorzugsschülerin. Ein allgemeines Raunen ging durch die Klasse und über den Köpfen aller Ungebildeten formte sich das Neidwort „Streberin“. Katharina hingegen bewunderte ihre intelligente Schulkollegin. Wie in aller Welt konnte sich Andrea Salzner nur derartig lange Textpassagen merken? Würden die anderen Schüler jetzt auch noch so detaillierte Antworten geben, könnte es sich vielleicht ausgehen, dass sie, Katharina die Ahnungslose, vom schrillen Klang der Pausenglocke erlöst wurde. 

Im Moment schien dieser Hoffnungsschimmer aber in weite Ferne gerückt zu sein, da der auserwählte Teenager offensichtlich unter einem völligen Blackout litt. Das Stichwort „Batista“ löste in dem armen, ohnehin schon schüchternen Schüler ein entsetztes „äh“ aus. Sein mit Akne gespicktes Gesicht rötete sich wie ein reifer Paradeiser und ein hilfloses „äh“ verließ kaum hörbar seine Lippen. Als einige seiner mitleidlosen Klassenkameraden auch noch schamlos zu kichern begannen, zeigte der mit den Fingern hektisch auf eine Bank klopfende Lehrer ausnahmsweise Erbarmen mit der unwissenden Kreatur: „Okay“, seufzte er hoffnungslos, „um es kurz zu machen, Fulgencio Batista war von 1940 bis 1944 gewählter Staatspräsident von Kuba und knüpfte damals mit der Sowjetunion diplomatische Beziehungen. Obwohl er sich nach seiner Amtszeit von der Politik distanzierte, unterhielt er dennoch Kontakte zu amerikanischen Mafiosi. Nach einem Militärputsch gegen den amtierenden Präsidenten Prío herrschte er 1952 bis 1958 als Diktator …“.

Er hielt kurz inne als würde er soeben eine ganz perfide Idee gebären und setzte schließlich verschmitzt lächelnd fort, „So, aber bevor ich Ihnen jetzt noch einmal alles zum Hundertsten Mal herunterbete, fände ich es schön, wenn jeder von Ihnen eine kleine Zusammenfassung über Batistas Leben schreiben würde. Ich möchte aber nicht, dass jetzt alle mit demselben Wikipedia-Artikel daherkommen, klar? Ich will eure eigenen Recherchen aus unterschiedlichen Quellen sehen!“, forderte er die Schüler auf, während sein Blick unter allgemeinem Murren auf der Suche nach seinem nächsten Opfer war. Wie ein Adler auf Beutejagd schwirrten seine bebrillten Augen durch die Klasse.

(Ende Teil 6 / Fortsetzung folgt)

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