KATHARINA SCHLÄFT "El Che" (8) © 2009, Sonja Hubmann

DIENSTAG, 14. Mai 1946

Klassenzimmer, Córdoba (Argentinien)

Dann endlich gelang es ihr wieder die Augen zu öffnen. Sie atmete ein paar Mal tief durch und richtete ihren Blick an vorne. Okay, alles in Ordnung. Da stand ihr Lehrer und rings um sie waren ihre Klassenkameraden, oder besser gesagt, Kameradinnen. Katharina runzelte jedoch nachdenklich die Stirn. Irgendwie wirkte dennoch alles fremd. Sie versuchte sich angestrengt an die letzten Minuten zu erinnern, aber ihr Gedächtnis verweigerte jegliche Erinnerung. 

Die Stimme des Professors, der eine etwas abgetragene dunkle Hose und ein leicht verschwitztes weißes Hemd trug, war nun deutlich lauter geworden: „Catalina!“, rief er ungeduldig in einer Sprache, die Katharina zunächst etwas eigenartig anmutete. Spanisch? Obgleich sie sich bei ihrer Namensnennung „Catalina“ gar nicht so richtig betroffen fühlte, antwortete sie in astreinem Spanisch: „Verzeihung, ich hab‘ die Frage nicht ganz verstanden.“, gab sie verhalten zu. Schon wieder kicherte die gesamte Klasse. Katharina krallte sich in den abgeschundenen Holzsessel und ließ ihre dunklen Augen zögerlich durch den Klassenraum wandern. 

Zu ihrer linken saß immer noch ihre beste Freundin. Wie hieß sie doch gleich? Wie weggeblasen war jedoch der Name ihrer sonnengebräunten Sitznachbarin. Auch die anderen Schülerinnen sahen irgendwie – südamerikanisch aus. Hm, überlegte sie unruhig. Wo befanden sich denn ihre männlichen Klassenkollegen? War dies immer schon eine reine Mädchenklasse gewesen? Katharina rutschte verunsichert auf ihrem Sessel hin und her. Obwohl ihr die Mädchen in der Klasse äußerlich fremd schienen, so verspürt sie doch zu vielen von ihnen eine emotionale Nähe, ganz besonders zu ihrer quirligen Sitznachbarin, deren Name ihr partout nicht einfallen wollte. Es war ein unheimliches, angstmachendes Gefühl. 

Ihr Blick fiel abermals auf den schmächtigen Lehrer, der sich soeben durch sein schwarzgelocktes, jedoch spärlich gewachsenes Haar fuhr. Hatte er nicht einmal Brillen getragen? Katharina wunderte sich über die Streiche, die ihr ihre Erinnerung spielte. Es war eine trügerische Gedankenmischung von gewohnten Gefühlen und unbekannten Eindrücken. Der Professor hatte sich allerdings mit dem Schweigen seiner verwirrten Schülerin abgefunden und kritzelte nun diverse Lehrsätze an die Tafel. Katharina übertrug die spanischen Sätze in ihr Schulheft. Ihr Blick fiel dabei auf die Datumsangabe, die sie wohl am Beginn der Stunde in die obere Seitenecke geschrieben haben musste: Dienstag, 14. Mai 1946. Hm, Dienstag? Na ja, auch gut, dachte sie, während sie versuchte den starken Holzgeruch, der sich mit dem Schweiß einiger Schülerinnen vermischt hatte, aus ihrer Nase zu bekommen. Hatte es hier herinnen immer schon so eigenartig gerochen? Und war es hier im Klassenzimmer immer schon so drückend schwül gewesen? 

Sie versuchte sich krampfhaft an den Vornamen ihrer Sitznachbarin zu erinnern, die sich ihre rabenschwarze Kurzhaarfrisur zurechtzupfte und etwas linkisch zu Katharina hinübergebeugt geheimnisvoll flüsterte: „Catalina, gehst Du nach dem Unterricht mit mir zu den Guevaras?“ Katharina antwortete mit einem unentschlossenen „äh“. „Natalia!“, ermahnte der Professor die schwatzhafte Schülerin, „wenn Du etwas zu sagen hast, dann bitteschön laut, oder sei still, bis der Unterricht zu Ende ist.“ Natalia bevorzugte die zweite Variante und schwieg, während Katharina in einem zufriedenen Lächeln versank. „Natalia“, wiederholte sie geistesabwesend und bedankte sich innerlich bei ihrem Klassenlehrer für diese hilfreiche Namensnennung. 

Der schrille Klang der Schulglocke riss sie aber unsanft aus ihrer Lethargie und wie auf ein stummes Kommando sprangen die Schülerinnen auf und stürmten in Richtung Ausgang. 

(Ende Teil 8 / Fortsetzung folgt)

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