KATHARINA SCHLÄFT "El Che" (28) © 2009, Sonja Hubmann

 

Katharina überlegte nun, wie sie die Konversation mit dem charismatischen Jungen in Gang halten könnte. Sie sah sich im Raum um und entdeckte schließlich eine Schwarzweiß-Fotografie, auf der drei Damen mit einem kleinen Kind zu sehen waren. Die beiden jüngeren trugen gespenstisch anmutende Rundhüte, die sie tief in die Stirn gezogen hatten. Katharina tippte mit dem Zeigefinger auf den kleinen Jungen, der von einer der drei Frauen im Arm gehalten wurde und erkundigte sich neugierig: „Bist Du das?“ Ernesto nickte ertappt: „Ja, und das …“, stellte er die anderen vor, „…das ist meine Mutter, das ist meine Tante Beatriz und das hier ist meine Großmutter. Wie unschwer zu erkennen ist, liegt das Foto schon etliche Jahre zurück.“, schmunzelte er. 

Katharina schenkte der streng wirkenden Tante Beatriz noch einmal einen prüfenden Blick und tat ihren ersten Eindruck kund: „Deine Tante sieht auf dem Foto ziemlich düster drein.“ Ernesto korrigierte jedoch sofort: „Leider zeigt dieses Foto nicht ihr wahres Wesen. Beatriz ist ein herzensguter Mensch. Ich hatte als Kind einmal eine schwere Lungenentzündung und sie hat sich aufopfernd um mich gekümmert.“, lobte er rückblickend sie mit strahlenden Augen. Katharina entdeckte hinter dem Foto noch einen abgegriffenen Brief, der scheinbar von einer zarten Kinderhand geschrieben worden war. Ernesto folgte ihrem Blick und lächelte: „Tja, das ist mein aller erster Brief an Tante Beatriz. Angeblich war ich damals erst vier Jahre alt.“

„Du hast mit vier Jahren schon Briefe geschrieben?“, wiederholte Katharina ungläubig und beäugte nun noch intensiver das geheimnisvolle Schriftstück, das mit dem Namen Tété unterzeichnet war. Ernestos sonnengebräuntes Gesicht nahm plötzlich schelmische Züge an: „Natürlich. Du etwa nicht?“ Katharina ärgerte sich erneut über Ernestos eigenartigen Sinn für Humor, enthielt sich aber der Stimme und vermutete, dass ihm damals wohl seine Mutter die Hand geführt hatte.  

Da bisweilen aber weder Matías noch Natalia wiedergekehrt waren, blieb Katharina nichts anderes übrig, als sich eine weitere Frage auszudenken, mit der sie die unangenehme Wartezeit überbrücken konnte. „Wie alt ist Deine Großmutter?“, hoffte sie auf eine vernünftige Antwort. Ernesto spazierte langsam im Raum auf und ab und gab diesmal eine zufriedenstellendere Auskunft: „Sie wird am 15. Juni 78 Jahre alt.“ „Nicht schlecht“, bewunderte Katharina das doch schon hohe Alter seiner Großmutter. Ernesto warf der alten Dame auf dem Foto einen verklärten Blick zu und ergänzte: „Ich sehe vor meinem geistigen Auge immer noch, wie sie in Portela durch die Maisfelder spaziert. Mit ihr war es nie langweilig und sie hat sich immer sehr fürsorglich um mich gekümmert, genauso wie auch Beatriz. Die beiden sind großartig.“ 

Katharina sah zum ersten Mal wie sich die sonst so kühlen und undurchdringlichen Augen des jungen Mannes mit einer wohligen Warmherzigkeit füllten. Genau dieser Blick musste es sein, der ihre Freundin Natalia verzaubert hatte. Katharina begutachtete ein weiteres Foto, auf dem Ernesto mit einigen Kindern Fußball spielte. Die Erklärung dazu war nun wieder etwas lockerer: „Das war auch in Alta Gracia. Ich habe dort zumeist mit den Kindern der nicht so betuchten Leute gespielt, aber es hat immer eine Menge Spaß gemacht. Ich darf ja gar nicht daran denken, was wir dort alles angestellt haben, angefangen von harmlosen „Räuber und Gendarm-Spielen“ bis hin zu wahren Bandenkriegen in selbst gebauten Schützengräben. Wir haben uns wirklich jede Dummheit geleistet.“ 

Katharina lächelte wissend: „Ja, ja, Deine Eltern haben schon angedeutet, dass Du als Kind ziemlich halsbrecherische Aktionen geliefert hast.“ „Das Risiko war für mich immer kalkulierbar.“, beruhigte Ernesto seine junge Besucherin, die sich in diesem Augenblick gerade an seine unmäßige Essensaufnahme erinnerte und geradeheraus fragte: „Isst Du eigentlich immer so heißhungrig?“ Katharina biss sich selbstkritisch auf die Zunge. War diese Frage vielleicht zu dreist gewesen? Unschlüssig beäugte sie ihr stummes Gegenüber und schickte sofort eine bewundernde Bemerkung nach: „Du kannst ja ganz schön viel auf einmal verdrücken.“ 

Ernesto, der wohl das innere Dilemma des Mädchens erkannt hatte, grinste kurz und schüttelte geschmeichelt den Kopf. Mit etwas ernsterer Miene erklärte er dann aber: „Das liegt an diesen ständigen Diäten, die ich aufgrund meines Asthmas immer einhalten hatte müssen. Klar, dass man dann alles hinunterschlingt, wenn man einmal nicht zu fasten braucht.“ Katharina strich sich verlegen durch ihr kaffeebraunes Haar und wünschte sich, diese Frage lieber nicht gestellt zu haben. Ihr Blick wanderte sehnsuchtsvoll zur Türe, aber dort war immer noch niemand zu sehen. Wo blieben denn Matías und Natalia so lange?

(Ende Teil 28 / Fortsetzung folgt)

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