KATHARINA SCHLÄFT "El Che" (36) © 2009, Sonja Hubmann


Katharina hatte in diesem Moment jedoch nicht mit dem Übermut einer besonders bewegungsfreudigen Tänzerin gerechnet. Diese hatte nämlich im Zuge einer enthusiastischen Drehung ihr Handgelenk gegen Katharinas linken Unterarm geschleudert, die daraufhin ein erschrockenes „aua“ von sich gab. Die Missetäterin entschuldigte sich aber sofort für dieses unabsichtliche Vergehen bei ihrem überraschten Opfer. 

Katharina griff sich kurz an ihren Arm und kniff die Augen zusammen. „Bist Du verletzt?“, wollte Matías besorgt wissen. Katharina schüttelte jedoch tapfer den Kopf. Sie hoffte immer noch auf eine sanfte Ballade, bei der sie sich an ihren Tanzpartner schmiegen konnte. Da die Stimme aus dem Radio nun aber einen feurigen Pasodoble ankündigte, resignierte Katharina erschöpft. Matías lächelte mitfühlend und geleitete seine leicht ins Schwitzen geratene Gefährtin aus der Gefahrenzone. 

Er entführte sie galant in ein spärlich beleuchtetes Nebenzimmer, indem sich eine weinrote, gepolsterte Sitzgelegenheit befand, die von Katharina sofort in Beschlag genommen wurde. Sie fasste sich an die verletzte Stelle, indem sie ihren Blusenärmel zaghaft nach oben schob. Tatsächlich, da war ein kleiner Kratzer, der wohl vom Fingernagel oder dem Armband der Attentäterin stammen musste. Matías beugte sich zu ihr hinunter und begutachtete mit geschultem Auge die Verletzung. „Tut es sehr weh?“, erkundigte er sich anteilnehmend.

 Katharina streifte sich aber den Ärmel ihrer Bluse über die Verletzung und konstatierte beherzt: „Nicht so schlimm.“ Matías musterte sie mit einem etwas ungläubigen Blick, bestätigte dann aber ihre Diagnose: „Na ja, sieht zum Glück wirklich nicht so heftig aus, aber vielleicht solltest Du Dir dennoch etwas drübertun.“ Das Mädchen lehnte aber auch diesen Vorschlag kühl lächelnd ab. 

Nach einer kurzen Gedenkpause erinnerte sie sich wieder an Natalias Bitte, der zu Folge sie Matías über Ernestos Gefühl ausfragen sollte. Dies wäre nun der perfekte Zeitpunkt, um ihren Auftrag auszuführen. Gerade aber, als sie den Mund öffnen wollte, kam ihr Matías mit seiner Vermutung zuvor: „Deine Freundin Natalia scheint ja ziemlich verliebt in Ernesto zu sein, oder?“ Katharina fühlte sich ertappt. Konnte dieser junge Mann etwa Gedanken lesen? Sie antwortete zögerlich: „Nun ja, ein bisschen verknallt ist sie schon in ihn.“, gestand sie wahrheitsgetreu und hoffte auf eine weiterführende Erklärung. 

Matías lächelte: „Nun, Natalia ist nicht das einzige Mädchen, das in Ernesto verliebt ist. Er ist hier an der Schule der unumstrittene Frauenschwarm. Weiß der Teufel, wie er das anstellt.“ Katharina hätte in diesem Augenblick am liebsten gesagt, dass sie gegen Ernestos Charme immun war und dass sie ihn, Matías, wesentlich interessanter und attraktiver fand, aber diese intimsten Gedanken konnte sie ihm natürlich nicht gestehen. Sollte sie ihn intensiver zu Ernestos Gefühlen Natalia gegenüber befragen? Sie entschloss sich kurzerhand für ein „nein“. Sollte Natalia ihre Liebesangelegenheiten doch alleine lösen. 

Da Katharina einzig und alleine Augen für Matías hatte, versuchte sie es mit einem spontanen Themenwechsel und spielte auf das europäische Äußere ihres Gegenübers an: „Du bist aber kein echter Argentinier, oder?“ Die unwiderstehlich blauen Augen des Teenagers zwinkerten ihr amüsiert zu. Er antwortete mit einem Schmunzeln: „Richtig erkannt. Meine Eltern sind vor etwa fünf Jahren aus Wien geflohen.“ „Aus Wien? 1941?“, murmelte Katharina und schien zu überlegen, woran sie dieses Datum zeitgeschichtlich erinnerte. Auch ihre Vermutung flüsterte sie sinnierend: „Der Zweite Weltkrieg?“ 

Matías nickte und fügte sofort eine Zusatzinformation hinzu: „Mein Vater ist Deutscher und meine Mutter Jüdin.“ „Oh“, kam es mitfühlend über Katharinas Lippen. Es war, als würden sich plötzlich einige Gedankenfetzen in ihrem Gehirn bilden und Worte wie „Holocaust“ oder „Konzentrationslager“ fabrizieren. Vermutlich hatte sie es kürzlich in der Schule gelernt? Sie verdrängte allerdings ihre Erinnerungsversuche und lauschte stattdessen der weiterführenden Erzählung des charismatischen Jungen: „Meine Eltern mussten aus Hitlers Großdeutschem Reich fliehen, was ihnen zum Glück gelungen ist.“ 

Katharina konnte die Anspannung in seinem Gesicht deutlich erkennen und seufzte daher betroffen: „Verstehe.“ Es dauerte jedoch nicht lange, bis sie eine weitere Frage über ihre weichen Lippen schickte: „Aber weshalb sprichst Du dann so gut Spanisch?“, wunderte sie sich. Matías grinste verschmitzt: „Nun, ich hatte fünf Jahre Zeit, die Sprache zu lernen.“ Katharina blickte ihn erstaunt an. Wie konnte man in nur fünf Jahren eine Sprache akzentfrei sprechen lernen? Sie kniff ungläubig die Augen zusammen und erwartete die Auflösung des Rätsels. Matías wanderte lässig zu ihrem Fauteuil und setzte sich frech auf dessen schon etwas abgewetzte Seitenlehne. Fast ein wenig reumütig gestand er: „Na gut, eigentlich bin ich in Spanien aufgewachsen, aber als dann 1936 Franco an die Macht kam, sind meine Eltern nach Österreich geflohen. Meine Mutter hatte in Wien jüdische Verwandte und so konnten wir uns eine neue Existenz aufbauen, zumindest kurzfristig.“, knurrte er mit zynischem Unterton. 

Abermals blitzten in Katharinas dunklen Augen kleine Fragezeichen auf: „Aber ich dachte, Dein Vater ist Deutscher?“ Matías zeigte sich durchaus geschmeichelt über das zaghafte Verhör der hübschen 15jährigen und antwortete artig: „Ja, mein Vater ist Deutscher, aber kennengelernt hat er meine Mutter damals in Spanien.“ „Also“, versuchte Katharina zusammenzufassen, „dann ist Deine Mutter so etwas wie eine spanische Jüdin?“ „So ungefähr“, amüsierte sich Matías über Katharinas Bemühen, seiner Familienchronik zu folgen.

(Ende Teil 36 / Fortsetzung folgt)

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