KATHARINA SCHLÄFT "El Che" (44) © 2009, Sonja Hubmann


Calle Obispo Salguero, bei Katharina zu Hause, Córdoba (Argentinien)

Die beiden setzten ihren Weg zu Katharinas Wohnort fort. Als sie endlich in der Calle Obispo Salguero angekommen waren, reichte ihr Matías warmherzig die Hand und flüsterte mit belegter Stimme: „Danke für den netten Abend.“ Trotz ihrer immer noch vorhandenen Kopfschmerzen konnte sie ihren Blick kaum von dem attraktiven Gesicht ihres Begleiters abwenden. Seine kobaltblauen Augen waren dermaßen hypnotisch, dass sie es nicht schaffte, irgendwo anders hinzusehen. Mit klopfendem Herzen und stockendem Atem erwiderte sie mit etwas gebrochener Stimme seinen Gruß: „Gute Nacht.“, hauchte sie und verspürte plötzlich einen zärtlichen Kuss auf ihrer Wange. 

Noch ehe sie darauf reagieren konnte, hatte ihr Matías schon den Rücken zugedreht und entschwand langsam ihrem sehnsüchtigen Blick. Katharina stand aber immer noch wie angewurzelt da und starrte ihm nach. Hatte er sie jetzt tatsächlich geküsst? Ja, hatte er, zwar nur auf die Wange, aber immerhin. Sie fühlte einen ganzen Schmetterlingsschwarm in ihrem Bauch, der ihr das Atmen schwer machte. Den ganzen weiteren Abend hindurch konnte sie an nichts anderes mehr denken als an die Berührung seiner weichen Lippen. Von gemeinen Kopfschmerzen gepeinigt, begab sie sich jedoch noch vor Mitternacht zu Bett. Dass kurz nach Mitternacht ihre Familie zu Hause eintraf, entging dem verliebten Mädchen.

MITTWOCH, 15. Mai 1946

Calle Obispo Salguero, bei Katharina zu Hause, Córdoba (Argentinien) 

Erst am nächsten Morgen war es ihr möglich, ihre Eltern beim Frühstückstisch zu begrüßen. Sie wurde jedoch das eigenartige Gefühl nicht los, dass irgendwas anders war als sonst. War es die Frisur ihrer Mutter? Der neue Anzug ihres Vaters oder vielleicht das Verhalten ihrer beiden jüngeren Geschwister? Katharina fand aber keine Antwort auf ihre innere Unruhe. Zudem erklang aus dem Radio nach ein paar Takten Musik die sonore Stimme eines Nachrichtensprechers. Das Mädchen hätte schwören können, dass es sich dabei um jenen Moderator handelte, den sie schon gestern gehört hatte. 

Und schon wieder verkündete er unangenehme Neuigkeiten: „Die 74 Schiffe, die im Sommer beim Atombombenversuch im Bikini-Atoll eingesetzt werden sollen, liegen jetzt ziemlich vollzählig in Pearl Harbor vor Anker. Eine Generalprobe soll um den 25. Juni stattfinden. Alle Wirkungsgrade der Atombombe sollen erprobt werden. Im Zentrum wird sich das Schlachtschiff Nevada befinden und im engeren Umkreis 23 andere Schiffe. Millionen von Hitzegraden werden sich entwickeln. Diese Nebenwirkung wird jedoch nur von kurzer Dauer sein und soll für die Flugzeugträger die Feuerprobe darstellen …“ 

„Haben den Amerikanern die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki nicht genügt? Was gibt’s denn jetzt noch zu erproben?“, empörte sich Katharinas Vater mit grimmiger Miene. Auch ihre Mutter verurteilte diese geplante Übung lautstark und übertönte mit ihrer etwas schrillen Stimme den Radiosprecher: „Es ist wirklich lächerlich. Jetzt sind diese grauenvollen Bilder des Atombombenabwurfs nicht einmal verjährt und schon wieder testen sie diese Massenvernichtungswaffe!“ 

Katharina runzelte die Stirn und erkundigte sich vorsichtig: „Wann waren denn diese Abwürfe?“ Ihre Mutter grübelte kurz nach und nannte dann die entsprechenden Daten: „Hiroshima war am 6. August 1945 und Nagasaki folgte am 9. Beide Abwürfe töteten in einer Sekunde weit mehr als 150.000 Menschen und weitere 100.000 starben wenige Wochen darauf an der radioaktiven Strahlung und …“ 

„Psst“, zischelte Katharinas Vater nun energisch und deutete auf das Radio. Unverkennbar wollte er die Fortsetzung der Meldungen hören. Nach dieser energischen Geste wagte es niemand mehr, dem Nachrichtensprecher ins Wort zu fallen: „… führt die achte amerikanische Flotte südwestlich von Haiti, unter der Beteiligung der Flugzeugträger „Roosevelt“, „Midway“ und „Princeton“ große Manöver durch. Insbesondere sollen während dieser drei Tage Flugangriffe erprobt werden. Danach wird man an den Ostufern von Puerto Rico Landungsmanöver üben. Dabei sind unter anderem Schiffsbombardierungen von der Luft aus und die Verwendung von Raketenbomben vorgesehen.“, beendete er dieses Thema. 

Noch ehe Katharina etwas darauf erwidern konnte, wurde sie von ihrer Mutter zur Eile ermahnt: „Wenn du so herumtrödelst, wirst du schon wieder zu spät zur Schule kommen.“ Das Mädchen schluckte schuldbewusst den letzten Bissen hinunter und äugte zu ihrem Vater, der verständnisvoll hinzufügte: „Ach was, Maria, unsere Tochter hat noch ihr ganzes Leben Zeit, etwas zu lernen.“  Maria strich sich mit mahnendem Blick eine dunkle Haarsträhne aus ihrem wohlgeformten Gesicht und zeigte sich von ihrer strengen Seite: „Nimm sie bitte nicht in Schutz. Ihre schulischen Leistungen sind sowieso nicht überragend, vor allem nicht in Geschichte, stimmt’s Katharina?“ 

Die Angesprochene brummte jedoch nur missmutig, schnappte sich mit mäßigem Tempo ihre Schultasche und trottete Richtung Türe: „Bis später!“, murmelte sie mit halbvollem Mund. So, so, scheinbar stand heute also das Fach „Geschichte“ auf dem Stundenplan. Sie versuchte sich angestrengt daran zu erinnern, ob sie vielleicht irgendetwas hätte lernen sollen. Vielleicht stand ihr eine Prüfung bevor? Ein Test? Eine Schularbeit? Da Katharinas graue Zellen aber keine Rückmeldung gaben, verwarf sie jeglichen Gedanken daran und zog es vor von Matías ein wenig tagzuträumen. Würde sie ihn in der Schule sehen? Sollte sie auf ihn zugehen? Ihn vielleicht mit einem Küsschen begrüßen? Während sie darüber nachdachte wurden ihre Schritte jedoch eher langsamer und eine Verspätung schien somit unvermeidbar.

(Ende Teil 44 / Fortsetzung folgt)

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