KATHARINA SCHLÄFT "El Che" (45) © 2009, Sonja Hubmann


Klassenzimmer, Córdoba (Argentinien)

Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, vor dem Lehrer ins Klassenzimmer zu huschen. Ihrer Sitznachbarin Natalia flüsterte sie aufgeregt ins Ohr: „Ich muss Dir nachher unbedingt etwas erzählen.“ Ihre Freundin strahlte mitteilungsbedürftig zurück: „Ich Dir auch! Du glaubst nicht, was gestern noch alles passiert ist.“, machte sie Katharina den Mund wässrig. Den Klassenlehrer interessierte im Augenblick aber etwas ganz anderes. Sein strenger Blick fiel auf Katharina: „So, Catalina, was fällt Dir zum 9. Juli 1816 ein.“ 

Die ahnungslosen Augen des Mädchens weiteten sich erschrocken. 1816? Was war denn das für ein Datum? Im Hintergrund hörte sie, wie ihr jemand zuraunte: „Unabhängigkeit.“ Sie versuchte sich angestrengt auf die Beantwortung der Frage zu konzentrieren, aber eine plötzlich aufkommende Müdigkeit machte ihr dies unmöglich. Ihre Finger wurden immer kälter und sie hatte das Gefühl, als ob ihr ganzer Körper an Wärme verlieren würde. Ihre Augenlider wurden zunehmend schwerer. Nicht ein klarer Gedanke wollte sich in ihrem Gehirn formen. Wie gelähmt saß sie da und starrte ihren verschwommen wirkenden Lehrer abwesend an. Seine Worte drangen wie durch einen dicken Wattebausch zu ihr. 

Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und vernahm die Frage erneut: „14.06.1946.“ Katharina überlegte verwirrt. 1946? Hatte das Datum denn nicht gerade 1816 gelautet? Sie wagte einen kurzen Blick zur Seite und merkte, wie ihre Sitznachbarin immer nervöser wurde. Komisch, dachte Katharina, wie sieht Natalia denn plötzlich aus? Mit einem Mal erkannte sie jedoch, dass sich neben ihr nicht Natalia, sondern Nadine befand. Darüber hinaus saß sie in einer gemischten Klasse und ihr Lehrer war scheinbar binnen Sekunden zum Brillenträger mutiert. Katharinas Verunsicherung steigerte sich zum völligen Blackout.


JETZTZEIT
Klassenzimmer, Wien 

Erst nach und nach kehrten ihre Gedanken und Erinnerungen wieder. Das Datum 14.06.1946 spukte schemenhaft in ihrem Kopf herum und durch ihr Gehirn flitzte der Name Ernesto Guevara. Bei dieser Jahreszahl musste es sich um Ernestos offizielles Geburtsdatum handeln. Ihr Professor wurde indessen immer ungeduldiger. Durch die Klasse ging ein gelangweiltes Raunen. Aus der hinteren Reihe vernahm sie die spöttische Bemerkung ihrer angriffslustigen Mitschülerin Jasmin: „Die ist doch schon wieder eingeschlafen!“ Und auch die Folgebemerkung ihrer dicklichen Busenfreundin Klara ließ nicht lange auf sich warten: „Hört ihr, wie unsere Siebenschläferin schnarcht?“ 

Es dauerte jedoch nur wenige Augenblicke, bis sich Katharina von ihrem Blackout erholt hatte. Die Beleidigungen ihrer Mitschülerinnen überhörte sie geflissentlich. In einem lichten Moment atmete sie kurz ein, netzte sich die Lippen und beantwortete dann wie in Trance die Frage ihres Sozialkunde-Lehrers. Sie erzählte binnen weniger Minuten alles, was sie soeben erlebt hatte, jedes Detail, jeden Dialog und jedes Gerücht. Am Ende ihres Vortrags herrschte in der Klasse fassungsloses Schweigen. Alle Augen waren immer noch gebannt auf sie gerichtet, auch jene ihres Lehrers, der einige Sekunden benötigte, um Katharinas umfangreiche Antwort einzuordnen. 

Stotternd rang er sich dann aber ein paar lobende Worte ab: „Äh, ja, das war jetzt ein interessantes Résumé, mit vielen neuen Aspekten.“ Er rückte seine Brille zurecht und hob teils verwundert, teils verwirrt die Brauen: „Offensichtlich haben Sie sich doch etwas eingehender mit dieser Thematik beschäftigt. Das mit dem Geburtsdatum ist selbst mir neu. Das werde ich auf jeden Fall noch einmal recherchieren. Aber, es war ein sehr interessanter Vortrag.“, gestand er und bat das Mädchen, sich wieder zu setzen. 

Aus einer anderen Reihe meldete sich nun die Vorzugsschülerin Andrea Salzner zu Wort, die das Wissen ihrer Schulkameradin unbedingt übertrumpfen wollte: „Aber Che Guevara hat dann trotzdem mit dem Medizinstudium begonnen“, erzählte sie die Geschichte weiter, „und zwar deshalb, weil 1947 seine geliebte Großmutter im 96. Lebensjahr verstorben ist. Nur, um an ihrem Krankenbett zu sein, hatte er seinen Job gekündigt. Er saß angeblich 17 Tage an ihrem Sterbebett. Deshalb begann er mit dem Medizinstudium und hat dann mit seinen Freunden Reisen durch Südamerika unternommen. Außerdem hat er auch auf einer Lepra-Station gearbeitet. Als er dann aber Fidel Castro kennenlernte, sah er sich als Guerillero und Revolutionär.“, heischte sie nach Anerkennung. 

Das schrille Pausenläuten verwehrte ihr dieses Lob jedoch und niemand der Anwesenden zeigte mehr Interesse an Che Guevaras Geschichte. Obwohl der Sozialkunde-Professor noch versuchte, die unaufmerksame Meute mit einer Aufgabenstellung zurückzuhalten, verklangen seine Worte im Klassenraum: „Nächstes Mal möchte ich bitte von Ihnen wissen, wie Che Guevara und Fidel Castro in Kuba an die Macht gelangen konnten, klar?“ Das unerbittliche Läuten der Glocke ließ diesen Satz jedoch vollkommen im Getümmel der Hinauseilenden untergehen. 

(Ende Teil 45 / Fortsetzung folgt)

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