KATHARINA SCHLÄFT "El Che" (46) © 2009, Sonja Hubmann
Auch Katharina und Nadine verließen erschöpft von dieser Fragestunde das Klassenzimmer.
Nadine staunte immer noch über das plötzliche Wissen ihrer Freundin: „Deine
Erzählung war unglaublich, absolut realistisch. Das klang echt, als wärst Du
wirklich dort gewesen.“ Katharina nickte leicht benommen und murmelte: „Irgendwie
war ich das auch.“
„Heißt was genau?“, forschte Nadine verwundert über diese kryptische Äußerung.
Katharina stammelte jedoch geistesabwesend: „Äh, nichts, ich glaube, ich bin
nur ein wenig übermüdet. Ich hatte gestern ziemlich starke Kopfschmerzen.“, beklagte
sie währenddessen sie sich mit Nadine auf den Gang begab.
Gerade in jenem Moment trotteten Jasmin und Klara des Wegs, die ihre immer müde Klassenkollegin mit einem provokanten Gähnen begrüßten. Jasmin grinste breit: „Uah, bin ich müde.“ Ihr molliger Satellit namens Klara wollte natürlich auch noch eins draufsetzten und spottete: „Ich würde auch so gerne alles im Schlaf lernen!“ Die beiden begannen gackernd zu lachen und hopsten amüsiert die Treppen nach unten. Während Katharina nur betroffen zu Boden blickte, knurrte Nadine den beiden erbost hinterher: „Vollzicken“.
Nach diesem strafenden Blick widmete sie sich allerdings wieder ihrer verloren
wirkenden Freundin. „Was ist los mit Dir? Du siehst aus, als hätte Dich ein Bus gestreift.“, konstatierte
sie besorgt. Katharina seufzte betroffen: „So fühle ich mich auch.“ Nach einer
kurzen Gedenkpause begann Nadine mit einer neuerlichen Befragung: „Woher hast
Du das alles gewusst?“ Katharina zuckte immer noch verstört die Achseln: „Es
war tatsächlich so, als wäre ich in Argentinien gewesen, als hätte ich all
diese Menschen wirklich kennengelernt.“
„Aber das ist doch unmöglich.“, wandte Nadine kopfschüttelnd ein.
Katharina stimmte ihr ratlos zu: „Das glaube ich auch, aber woher hätte ich denn sonst all dieses Details wissen sollen?“ Nadine gab sich nun ebenfalls ahnungslos und stellte wilde Vermutungen an: „Vielleicht hast Du irgendwann einmal eine Doku darüber gesehen und kannst Dich nicht mehr daran erinnern oder irgendwas mit Telepathie? Es kann ja sein, dass Dein Unterbewusstsein …“ „Quatsch, Nadine, Telepathie! Das glaubst Du doch selbst nicht.“, unterbrach sie Katharina verzweifelt und kratzte sich an ihrem linken Unterarm.
Wie gelähmt
hielt sie plötzlich inne und schob ihren Ärmel hoch. Da war er – der Kratzer, den
sie sich während des Tangos zugezogen hatte. Nadine begutachtete die leichte
Verletzung: „Wann hast Du Dich denn da geschnitten?“ Katharina getraute sich kaum
zu antworten, tat dies dann aber doch etwas stammelnd: „Beim Tangotanzen.
Irgend so eine Fiffi hat mich mit ihrem Armband oder etwas ähnlichem gestreift.“
Nadine kniff schmunzelnd die Augen zusammen. Sie glaubte ganz offensichtlich
kein Wort dieser Geschichte. Katharina konnte ihr dies nicht einmal übelnehmen.
Sie konnte es sich ja selbst nicht erklären, wie dieser offensichtliche Zeitsprung
möglich gewesen sein sollte.
Ihr abwesender Blick fiel in diesem Moment aber auf einen blonden Jungen, der
gerade den Gang entlangkam. Es war ihr Schwarm Marcel, der haargenau so aussah
wie Matías, den sie in Argentinien kennen gelernt hatte. Katharina sah ihn wie
einen Geist an. Marcel blieb kurz stehen und vergewisserte sich erstaunt:
„Kennen wir uns?“ Katharina schnappte mit pochendem Herzen nach Luft. Diese strahlenden,
einmalig glänzenden kobaltblauen Augen, dieses sonnengebräunte Gesicht, dieses
unwiderstehliche Lächeln konnte es doch nur ein einziges Mal auf diesem Planeten
geben.
Als Marcel jedoch schon weitergehen wollte, antwortete sie mit einem schüchternen: „Äh, nein, wir kennen uns nicht.“ Der Junge lächelte sie mitleidig an und stellte sich charmant vor: „Na ja, dann kennen wir uns wohl jetzt. Ich bin Marcel. Ich gehe in die siebente Klasse!“ Katharina räusperte sich verlegen: „Ich heiße Katharina und bin fünf, also – ich gehe in die fünfte Klasse!“, korrigierte sie ihren kleinen Fauxpas. Marcel strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und verabschiedete sich freundlich: „Na dann, hasta luego, Katharina!“
Nadine, die diese eigenartige Begegnung aufmerksam verfolgt hatte, stellte ihre Freundin nun zur Rede: „Was war das denn? – Du hast ihn angesehen, als wäre er ein Alien!“ Katharina, wieder etwas zu Sinnen gekommen, erkundigte sich verunsichert: „War das jetzt extrem peinlich?“ Nadine hätte diese Frage wohl am liebsten mit „ja“ beantwortet, gab sich dann aber doch diplomatisch und lächelte: „Nein wieso? Immerhin kennst Du ihn jetzt offiziell. Das ist doch ein Fortschritt, oder?“
Katharina nickte und beäugte immer noch ihre
rätselhafte Schnittverletzung. In diesem Augenblick wurde sie von Nadine aber
auffordernd geschubst: „Komm, wir holen uns etwas Süßes aus der Kantine und apropos
süß: Ich glaube, Marcel ist auch gerade dorthin unterwegs.“, frohlockte sie mit
diversen Hintergedanken. Katharina zog sich den Blusenärmel wieder über ihre
Verletzung und ließ diese Bemerkung unkommentiert. Und warum hatte sich Marcel
gerade auf Spanisch mit „hasta luego“ von ihr verabschiedet? Zufall?
Während Nadine aber schon überlegte,
wie sie ihre Freundin mit Marcel verkuppeln könnte, hing Katharina immer noch weiter
ihren unfassbaren Erlebnissen in Argentinien nach.
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