KATHARINA SCHLÄFT "Venedig in Wien" (10) © 2009, Sonja Hubmann

In jenem Augenblick aber, als sie die ziemlich kleingedruckte Schrift unter der Schlagzeile lesen wollte, blätterte ihr lebendiger Zeitungsständer allerdings um und schon lächelten ihr seitenweise Werbebotschaften entgegen. Aber noch etwas mutete ihr seltsam an. Die Schrift. Sie konnte zwar jedes Wort lesen, aber ein bisschen komisch kamen ihr die Buchstaben dennoch vor. Katharina hoffte nun anhand der Inserate ihr Gedächtnis wieder zu finden. Da gab es beispielsweise ein „Glühstoff-Bügeleisen“, das als selbstheizend und ohne Wärmeunterbrechung angepriesen wurde. 

Beim nächsten Produkt musste sie ein wenig schmunzeln. Doering’s Seife mit der Eule. Dies war jedoch nicht das Witzige daran, sondern der Satz, der darunter stand: „O diese Männer, wie sie so wenig Wert legen auf ihr Äußeres, auf die Pflege der Haut…“ Stimmt, dachte sie. Wenn Männer doch genauso reinlich bei der Körperpflege wären wie Frauen. Nach für sie ganz normal wirkenden Anzeigen über „billige böhmische Bettfedern“, „Chocolade Küfferle“, „Küchensparherde“ und einer Vergnügungsreise der Hamburg-Amerika-Linie, entdeckte sie ein weiteres Kuriosum. „Specialarzt für Geheim- und Hautkrankheiten“. Was in aller Welt waren denn Geheimkrankheiten? Sie war sicher, dass sie diesen Begriff noch nie im Leben gehört hatte. Vielmehr geisterte ihr das Wort „Geschlechtskrankheiten“ durch den Kopf. 

Nachdem ihr informationsmüder Nachbar aber schon nach wenigen Seiten die Zeitung wieder eingesteckt hatte, erhob sich Katharina mit einem unzufriedenen Seufzer und hatte plötzlich das Gefühl, dass sie in Richtung Riesenrad gehen müsse. Sie kannte den Weg dorthin und führte sich diesen noch einmal vor Augen: Die Rotenturmstraße hinunter, dann ein Stück nach rechts über die Brücke hinüber, von der sie allerdings nicht mehr genau wusste, ob diese nun Ferdinandsbrücke oder Schwedenbrücke hieß und dann solange rechts halten bis das Riesenrad zu sehen war. 

Obwohl ihr Gedächtnis nicht so ganz wiedergekehrt war, so hatte sie das leise Gefühl, dass sie sich in der Nähe des Praters mit ihrer Freundin treffen wollte, deren Name ihr allerdings partout nicht einfallen wollte. Katharina setzte also zielstrebig ihren Weg in die gewünschte Richtung fort und marschierte zunächst einmal die Rotenturmstraße hinunter, wobei sie auf der linken Straßenseite ein interessantes Restaurant entdeckte, das sich „Zur schwäbischen Jungfrau“ nannte und angeblich im Jahre 1720 gegründet worden war. 

Eigenartiger Name, dachte sie, und ließ ihren Blick an einem großen Musikgeschäft vorüber schweifen, dessen Fassade mit diversen Instrumenten-Abbildungen geschmückt war. Inhaber war ein Herr J. C. Lutz. Auf seinem kunstvoll gearbeiteten Messingschild stand allerdings nur „Jgnatz Lutz“. Dieses ominöse „J“ fand sich dann auch gleich in der näheren Firmenbezeichnung wieder, die da lautete „Musik-Jnstrumente – Saiten – Fabriks – Niederlage“. 

Und auch in dieser Straße gab es an den Hausfassaden ein Werbeplakat neben dem anderen, wie zum Beispiel „Kaldont, bestes und billigstes Zahnputzmittel“, oder eine „Radfahrschule“, die sich hier in diesem Gebäude befinden sollte. Nach den rüpelhaften Radfahrern, die hier die Straßen unsicher machten, schienen jedoch nicht allzu viele diese „Radfahrschule“ besucht zu haben. Unweit davon hatte ein gewisser „Julius Kleemann“ eine „Damen-Mäntel-Confection“ und ein paar Geschäfte weiter wollte jemand seine Lokalität wegen „Liquidation“ vermieten.

Katharina blieb erst wieder vor einem großen Plakat stehen, das nun endlich die „Venedig-Frage“ löste. Darauf wurde vollmundig und pompös der Vergnügungspark „Venedig in Wien“ angekündigt, der sich unweit des Riesenrades befinden musste. Der Park war angeblich von 10 Uhr morgens bis 12 Uhr nachts geöffnet und neben allen möglichen Attraktionen war es als „Internationale Ausstellung neuer Erfindungen“ apostrophiert. 

An diesem speziellen Tag jedoch, dem 21. Juni, sollte das „Große Jubiläumsfest zur Feier des 60jährigen Regierungsjubiläums Ihrer Majestät der Königin von England“ stattfinden, das als Wohltätigkeits-Jubiläumsfest deklariert war. Der Eintritt betrug für Erwachsene 1 Gulden, für Kinder 20 Kreuzer. Katharina überlegte krampfhaft, ob sie mit ihren 15 Jahren jetzt noch als Kind oder schon als Erwachsene galt. Sie hoffte, noch als Kind durchzugehen, da sich bei einem erneuten Griff in ihr kleines Portemonnaie immer noch keine Geldvermehrung eingestellt hatte. Sie besaß nach wie vor magere 50 Kreuzer. Das war bei Gott nicht viel.

(Ende Teil 10 / Fortsetzung folgt …)

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