KATHARINA SCHLÄFT "Venedig in Wien" (2) © 2009, Sonja Hubmann


Marcel erklärte sich dann aber doch kurzerhand bereit, dem verzweifelten Quälgeist namens Jasmin zu helfen: „Okay, mal sehen, was mir dazu einfällt. Ist bei mir aber auch schon ein Weilchen her, seitdem ich das gelernt habe.“, entschuldigte er sich schon vorab für etwaige Wissenslücken. Jasmins Reaktion darauf fiel wie immer etwas übertrieben aus. Sie umarmte ihn freudestrahlend und schmachtete: „Oh, danke, danke, danke. Das ist wirklich so lieb von Dir!“ „Lass uns zu einem der Tische dort hinten gehen!“, schlug Marcel mit verhaltenem Lächeln vor und wanderte mit ihr unter dem klatschsüchtigen Getuschel seiner Klassenkameraden in den hinteren Bereich der Kantine. 

Katharina warf den beiden einen gedankenverlorenen Blick nach und ärgerte sich immer noch über ihre Schüchternheit. So, als ob dies noch nicht schlimm genug wäre, watschelte nun auch noch Klara, die Jasmins schauspielerische Leistung aus kurzer Distanz mitverfolgt hatte, an ihr vorüber. Natürlich musste sie dabei die schadenfrohe Bemerkung loswerden, die ihr gerade auf der Zunge lag: „So ein Pech aber auch. Jetzt musst Du Deine Story ganz alleine schreiben. Dumm gelaufen, was?“ „Lass mich doch einfach in Ruhe und verzieh‘ Dich!“, knurrte Katharina, deren Nervenkostüm gerade zu bersten drohte. 

Klaras Pupillen weiteten sich aufgrund der unerwarteten Reaktion ihrer Schulkollegin. Ihren kecken Nachsatz wagte sie daher erst aus sicherer Entfernung: „Dir fällt aber bestimmt etwas im Schlaf ein.“, kicherte sie bösartig und gähnte theatralisch mit weit aufgerissenem Mund. Obwohl Katharina am liebsten aufgesprungen wäre und Klara eine saftige Ohrfeige verpasst hätte, versuchte sie sich dennoch ganz auf Nadines Geschichte zu konzentrieren, stets in der Hoffnung, dass ihr selbst etwas zum Thema „Wien um das 19. Jahrhundert“ einfallen würde. 

Sie vermied es dabei tunlichst, in die hintere Ecke der Kantine zu spähen. Sie wusste auch so, dass Jasmin ihren auserwählten Wissensspender unverfroren anhimmelte, um ihn bei Laune zu halten. Währenddessen Katharinas dunkle Augen immer schneller über Nadines Zeilen flitzten, merkte sie plötzlich wie sie eine unbarmherzige Müdigkeit überfiel. Nach jedem Absatz fühlte sie, wie ihre Finger kälter und kälter wurden. Es war, als würde ihr Gehirn langsam erfrieren. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und alles verlangsamte sich plötzlich. 

Sie kannte dieses Gefühl, das ihr vor Kurzem diese unerklärliche Zeitreise ins Argentinien des Jahres 1946 beschert hatte. „Bitte nicht“, flüsterte sie und kämpfte gegen ihre Müdigkeit an. Vergeblich. Sie schloss ihre schweren Lider für einen kurzen Moment, wobei ihr das Schulheft sanft aus den Händen glitt. Dann plötzlich herrschte für den Bruchteil einer Sekunde beklemmende Stille. 

Als sie ihre Augen nun wieder öffnete, war sie gerade im Begriff sich nach vorne zu beugen, um etwas vom Boden aufzuheben. Mitten in der Bewegung erstarrte ihr Blick allerdings. Alles wirkte so verschwommen, so fremd. Nur langsam verschwand der trübe Schleier vor ihren Augen. Wo war sie? Es roch hier wie in einem Kaffeehaus, nein, es war ein Kaffeehaus. Offenbar hatte sie sich kurz von ihrem Platz erhoben, um etwas, das ihr soeben aus den Händen geglitten war, aufzuheben. 

Für einen kurzen Moment hielt sie inne und verharrte mitten in der Bewegung. Angestrengt versuchte sie sich zu erinnern wie sie hierhergekommen war und was sie hier eigentlich wollte. Während Katharina krampfhaft versuchte, ihr Gedächtnis wiederzufinden, musterte sie ihre Umgebung.

(Ende Teil 2 / Fortsetzung folgt …)

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