KATHARINA SCHLÄFT "Venedig in Wien" (6) © 2009, Sonja Hubmann

Katharina schenkte dem Eingang des imposanten Gebäudes mit der Aufschrift „Franciscus Iosephus I.“ einen interessierten Blick. Die darunter befindlichen römischen Zahlen standen wohl für das Jahr der Erbauung. Sie versuchte aus den Buchstaben MDCCCXCIII eine Jahreszahl herauszulesen. Dabei konnte es sich nur um das Jahr 1893 handeln. Ihr Blick glitt an dem Gebäude hinab und blieb nun an vier dominanten Statuen hängen, die in geringen Abständen den Eingang zu bewachen schienen. Rechts und links davon befanden sich zwei weitere, noch eindrucksvollere Skulpturengruppen, die zu beiden Seiten der Fassade in einem Rundbogen standen. Die von ihr aus gesehene rechte war „Die Macht zu Land“ und die andere musste dann wohl „Die Macht zur See“ sein. Mit großen Augen bewunderte sie diese bildhauerische Meisterleistung. 

Katharina war sicher, dass sie von zu Hause gekommen war und sich mit jemandem treffen wollte. Aber mit wem? Und vor allem wo? Als sie tief Luft holen wollte, stockte ihr plötzlich der Atem. Das enge Mieder, das sie unter ihrem bodenlangen, marineblauen Kleid trug, schnürte ihr dermaßen den Brustkorb ab, dass sie nur flach atmen konnte. Sie versuchte sich krampfhaft an irgendwas zu erinnern und zupfte nervös an einer brünetten Haarsträhne herum, die sich unerlaubterweise aus der Gefangenschaft ihrer hochgesteckten Frisur befreit hatte. Auch ihren vom Wind etwas ramponierten weißen Strohhut rückte sie mit wenigen Handgriffen wieder zurecht. Es war nicht gerade das ideale Ausgehwetter. Umso mehr rätselte sie, weshalb sie überhaupt das Haus verlassen hatte und hier draußen umherirrte. 

Erst jetzt rief sie sich noch einmal den Satz des ungeduldigen Fräuleins aus dem Kaffeehaus in Erinnerung. Wo wollte diese junge Dame so dringend hin? Nach Venedig? Katharina sah sich zunächst einmal nach allen Richtungen um. Dass sie sich in Wien befand war eindeutig, aber wie sollte es dann möglich sein, von hier aus nach Venedig zu gehen? 

Sie stapfte gedankenversunken über den belebten Michaelerplatz, als plötzlich ein Einspänner mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf sie zuraste. Der Kutscher zog abrupt an den Zügeln, um den temperamentvollen Rappen zum Stillstand zu bringen. Das Pferd wieherte aber verängstigt auf und stieg mit den Vorderhufen gen Himmel. „Vorsicht, weg da!“, kreischte der dicke Kutscher erschrocken. Nur mit sehr viel Glück und einem gekonnten Sprung zur Seite war es Katharina gelungen die sicher scheinende Kollision mit dem Gefährt zu verhindern. Der junge Hengst quittierte dieses Schockerlebnis mit einer Ladung Pferdeäpfel, die er direkt hinter sich fallen ließ. Wie zu Fleiß landeten die hellbraunen Rossknödel vor Katharinas Füßen und entfalteten ihren beißenden Geruch. 

Während der Einspänner sogleich wieder geräuschvoll über das Kopfsteinpflaster davon donnerte, drückte Katharina mit angehaltenem Atem ihre Nasenflügel zusammen und überquerte eilig den Michaelerplatz. Auf der anderen Seite angelangt, lehnte sie sich nun mit klopfendem Herzen an die Fassade der „K. & K. Hofkunsthandlung“, um sich von diesem Schrecken zu erholen. Etwas geistesabwesend wagte sie sich dann aber doch auf den belebten Kohlmarkt, wo sich ein Geschäft neben das andere reihte. Sie passierte die "Bankwechslerstube Heinrich Braun" und begab sich in Richtung Graben. 

(Ende Teil 6 / Fortsetzung folgt …)

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

KATHARINA SCHLÄFT "Venedig in Wien" (24) © 2009, Sonja Hubmann

KATHARINA SCHLÄFT "Venedig in Wien" (30) © 2009, Sonja Hubmann

KATHARINA SCHLÄFT "Venedig in Wien" (32) © 2009, Sonja Hubmann