KATHARINA SCHLÄFT "Venedig in Wien" (9) © 2009, Sonja Hubmann

Einige Meter weiter lachte ihr jedoch das Glück in Form eines Emmentaler- und Salami-Verkäufers. Ein älterer Herr hatte seiner Enkelin kurz zuvor zugerufen: „Schau, der Salamutschi-Mann ist dort drüben!“ Jener gut gebaute Südländer schien Katharinas inneres Dilemma jedoch telepatisch erfasst zu haben. Er reichte ihr großzügig eine Scheibe Salami, die mit einem Stück Käse belegt war und schmunzelte: „Per Lei, Signorina! Eine kleine Kostprobe!“ 

Katharina bedankte sich freudestrahlend für die Essensgabe und lobte seine Ware: „Mmh, das schmeckt ganz vorzüglich!“ Nach angestrengtem Nachdenken fiel ihr sogar noch der italienische Begriff für „köstlich“ ein und sie schickte flugs ein dankbares „buonissimo“ hinterher, ehe sie sich mit einem Knicks verabschiedete und ihren Weg zum Stephansdom fortsetzte. 

Doch gerade, als sie ihrer spontanen Eingebung folgen wollte, war sie drauf und dran das Opfer eines neuerlichen Anschlags zu werden. Diesmal war es einer der vielen Radfahrer, der plötzlich ohne Vorwarnung aus der Singerstraße geschossen kam und sie beinahe überrollt hätte. Katharina brachte nur ein geschocktes „huch“ hervor. Ihr radelnder Aggressor war da weniger wortkarg: „Dummes Ding! Geh doch auf die andere Seite!“, fluchte der junge Mann mit wehendem Rock. 

Kopfschüttelnd und verärgert über diese Rüpelhaftigkeit stapfte Katharina nun tatsächlich auf die andere Gehsteigseite, wo sie sich zunächst auf einer kleinen Bank von ihrem Schrecken zu erholen versuchte. Von dieser sicheren Position aus konnte sie nun gelassen die viel zu schnellen Radfahrer und Fiaker beobachten. Vorfahrtsregeln oder ähnliches schien es nicht zu geben. Jeder fuhr so, wie er gerade wollte. Während radelnde Anfänger todesmutig von einer Seite zur anderen geigelten, schlängelten sich geübtere Fahrer in einem Höllentempo zwischen ihnen und den stets präsenten Pferdewägen hindurch. Dass hin und wieder auch Fußgänger die Straße kreuzen wollten, verlieh dem Schauspiel noch zusätzliche Brisanz.

Katharina beobachtete die Menschen, die sich auf dem Platz vor dem Stephansdom tummelten. Da gab es Wanderhändler, die in ihren regionalen Trachten ihre Waren anpriesen; stolze Offiziere in prächtigen Uniformen; gut gekleidete Geschäftsleute und armselige Bettler, die um ein Almosen flehten. Es war ein brodelndes Gemisch aus Farben, Gerüchen und auch Sprachen. Das von der Vielfalt dieser Eindrücke überwältigte Mädchen stellte sich aber immer noch eine Frage nach der anderen. Wieso hatte sie das Gefühl, dieses Straßenbild noch nie zuvor gesehen zu haben? Warum wirkte auf sie alles so unsagbar fremd und dennoch vertraut? Mit wem wollte sie sich treffen? Weshalb erinnerte sie sich an nichts? 

Sie versuchte sich abermals etwas abzulenken und stierte auf einen pausbäckigen Dickwanst, der unermüdlich seinen Leierkasten drehte und dazu gereimte Verse sang. Obwohl er sein balladenartiges Musikstück mit krächzender Stimme von sich gab, hatten sich nach wenigen Minuten dennoch etliche Zuhörer vor ihm eingefunden, die andächtig seinen Botschaften lauschten. Hinter ihm stand eine grell bemalte Tafel, die den Inhalt seiner Worte auch noch bildlich darstellte. Die Illustration war eine Art Karikatur. Im Wiener Parlament stritten sich da augenscheinlich zwei Politiker. Dem vorgetragenen Text konnte Katharina entnehmen, dass es darin um irgendeine Sprachverordnung in Tschechien ging und um einen gewissen Herrn Badeni. Da sie aber politisch nicht so ganz auf dem Laufenden war oder besser gesagt, überhaupt nicht, konnte sie sich dem Gelächter des überschaubaren Auditoriums nicht anschließen.

Ihr Blick wanderte daher ein wenig weiter und verweilte schließlich an drei ultra-orthodoxen Juden, die wild gestikulierend ihre gegensätzlichen Meinungen zum Ausdruck brachten, wobei ihre Schläfenlocken, die Peyes, munter von einer Backenseite zur anderen flogen. Als Katharina die langen schwarzen Gewänder der Männer begutachtete und die viel zu kleinen Hüte, die an ihren Köpfen festgeklebt schienen, fragte sie sich, wie man sich freiwillig so eigenartig kleiden konnte. 
Sie betrachtete ihr mit weißen Spitzen besticktes, marineblaues Kleid und freute sich darüber, offenbar einer anderen Religionsgruppe anzugehören. Ihre Augenbrauen zogen sich kurz zusammen, als sie über ihr Glaubensbekenntnis nachdachte. War sie überhaupt religiös? 

In diesem Moment nahm ein adrett gekleideter Herr an ihrer Seite Platz, nachdem er sich zuvor in aller Höflichkeit bei ihr nach der freien Verfügbarkeit dieses Sitzplatzes erkundigt hatte. Katharina akzeptierte dies wortlos, beobachtete sein Tun aber aus den Augenwinkeln. Der attraktive Schnurrbartträger schlug die von ihm mitgeführte Tageszeitung auf, so dass sein Gesicht vollends hinter den großformatigen Blättern verschwand. Dies bot Katharina die Gelegenheit, aus dem Hinterhalt zu kiebitzen. Es handelte sich hierbei um das „Neue Wiener Tagblatt“ vom 21. Juni 1897. Hm, heute war also der 21. Juni? Also Sommer und nicht Herbst. Aber sollte es da nicht um etliche Grade wärmer sein? Na ja, gegen das Wetter konnte man wohl nichts machen. 

Die Jahreszahl 1897 mutete ihr zwar auf den ersten Blick etwas fremd an, aber da es ja Schwarz auf Weiß in der Zeitungsecke stand, musste es seine Richtigkeit haben. Katharina begann so unauffällig wie möglich mitzulesen. Da war die Rede von einem türkisch-griechischen Krieg. Seit wann ging der denn? Oder hatte der gerade erst begonnen? 

(Ende Teil 9 / Fortsetzung folgt …)

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