KATHARINA SCHLÄFT "Venedig in Wien" (25) © 2009, Sonja Hubmann

Nach zwei weiteren Schlagzeilen hatte seine Tochter nun aber endgültig genug von dieser fragmentarischen Vorlesung. Sie bat ihren Vater mit etwas quengelnder Stimme um die Zeitung: „Darf ich die Zeitung auch einmal haben?“ Mit leichtem Widerwillen übergab er Emilie das Papier. So, als wolle er sich für diesen Zeitungsraub rächen, fügte er noch gestreng hinzu: „Du kannst Dir die offenen Stellen durchlesen. Wer nicht heiraten will, der muss selbst Geld verdienen!“ 

Emilies Lese-Enthusiasmus war plötzlich wie weggeblasen. Lustlos blätterte sie in der „Neuen Freien Presse“. Währenddessen machte sich in Katharina allmählich leichtes Unbehagen in Bezug auf Markus breit. Sie hatte ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen, da er aus Gründen der Höflichkeit nicht einfach aufstehen und gehen konnte. Vielleicht war ihm die Gesellschaft von Emilie und ihrem Vater ja unangenehm? Katharina wäre noch zu gerne mit ihm alleine gewesen, aber im Augenblick sah es für eine eventuelle, traute Zweisamkeit schlecht aus. Markus ertrug die Situation allerdings tapfer. Ihm schien es nichts auszumachen, seine Zeit mit Katharina, Emilie und Herrn Lechner zu verbringen. 

Als er so die vorbeiziehenden Menschen beobachtete, schien ihn dies an etwas zu erinnern, da er sich mit einer Frage an die beiden jungen Damen wandte: „Haben Sie vergangenen Samstag die Fronleichnamsprozession miterlebt?“ Katharina presste angestrengt die Lippen aufeinander. Fronleichnam? Prozession? Hier in Wien? Sie begann etwas verlegen zu hüsteln und hoffte, dass ihre Freundin Emilie darauf antworten würde, was diese auch unverzüglich tat: „Ja, das war eine unglaubliche Menschenmenge, die sich da durch die Stadt bewegt hat. Wir haben das Spektakel am Michaelerplatz verfolgt, wo die hohen Würdenträger vorüber marschiert sind und Reiterbrigaden Aufstellung genommen haben. Und überall standen die Leute an den Fenstern und in den Türen. Als der Festzug an uns vorbeigekommen ist, war ich nur wenige Meter vom Kaiser entfernt. Das war so beeindruckend!“, schwärmte Emilie von diesem Tag. 

Markus wollte nun aber auch von Katharina wissen, wie sie dieses Ereignis erlebt hatte. Die Angesprochene starrte auf einen kleinen Ast, den der Wind über den Boden blies. Schließlich gestand sie mit leerem Blick: „Ich kann mich eigenartiger Weise gar nicht daran erinnern.“ Emilie lachte fast ein wenig zu laut auf und begründete das Nichtwissen ihrer Freundin: „Katharina macht wieder Späßchen. Sie kann sich deshalb nicht daran erinnern, weil sie zu Ostern gar nicht in Wien war.“ 

Das in der dritten Person angesprochene Mädchen schenkte ihrer Freundin einen etwas belämmerten Blick und wartete auf die weiterführende Erklärung, die nicht lange auf sich warten ließ. Emilie stieß sie sanft in die Seite und erinnerte Katharina etwas ungehalten: „Du hast mir doch erzählt, dass ihr Verwandte in Mähren besucht habt, oder?“ 

Katharina nickte mit einem erhellenden Lächeln, obwohl ihr dieser angebliche Ausflug vollkommen aus dem Gedächtnis entfallen war. Da sie sich aber vor Markus nicht völlig blamieren wollte, tat sie einfach so, als könnte sie sich wieder daran erinnern: „Ach ja, richtig. Stimmt. Meine – äh – Tante lebt dort.“ „In Brünn, oder?“, vergewisserte sich Emilie neugierig. Katharina nickte verlegen: „Ja, ja, wir waren in Brünn, sehr schöne Stadt.“, ergänzte sie in der Hoffnung, dass dem tatsächlich so war. 

Da ihre Zuhörer aber nichts Gegenteiliges einwandten, beließ sie es einfach bei dieser Aussage. Emilie fiel in diesem Zusammenhang noch ein weiteres Ereignis ein, das in diesem Jahr stattgefunden hatte: „Eigentlich habe ich sogar schon zwei Kaiser gesehen!“, prahlte sie mit glänzenden Augen. Markus Friedmann erriet jedoch sofort, auf welche Begebenheit sie damit anspielte: „Sie meinen damit den Besuch Kaiser Wilhelms II. hier in Wien, richtig?“ Emilie nickte euphorisch: „Ja, es war toll, als die beiden Kaiser in einer gemeinsamen Kutsche vorübergefahren sind.“ 

Katharina, die auch daran keine Erinnerung hatte, erkundigte sich verhalten: „Wann war das? War ich da schon wieder nicht in Wien?“ Markus nannte blitzschnell das gefragte Datum: „Das war der 21. April in diesem Jahr!“ Während Emilie angestrengt nachdachte, weshalb Katharina sich auch daran nicht erinnern konnte, ergriff nun Franz Lechner unverhofft das Wort und erhob sich von der Parkbank: „Ich bitte höflichst um Verzeihung, aber ich müsste für einen Moment ein stilles Örtchen aufsuchen!“, erklärte er mit gedeckter Stimme. 

Markus, der in diesem Augenblick denselben Gedanken in sich trug, stand ebenfalls auf: „Vielleicht klingt das jetzt ein bisschen eigenartig, aber der Zufall will es, dass auch ich selbige Örtlichkeit aufsuchen müsste.“ Emilie entschuldigte großmütig den Harndrang der beiden Männer: „Wir warten, bis ihr wieder da seid. Das ist überhaupt kein Problem!“, freute sie sich, da sie endlich ungestört mit Katharina weiter tratschen konnte. 

Herr Lechner wandte sich allerdings noch einmal kurz zu seiner Tochter um: „Lies‘ bitte die Stellenangebote, ja?“ Emilie quittierte dies mit einem widerwilligen Kopfnicken und wartete, bis ihr Vater endlich außer Sichtweite war.

(Ende Teil 25/ Fortsetzung folgt …)

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

KATHARINA SCHLÄFT "Venedig in Wien" (24) © 2009, Sonja Hubmann

KATHARINA SCHLÄFT "Venedig in Wien" (30) © 2009, Sonja Hubmann

KATHARINA SCHLÄFT "Venedig in Wien" (32) © 2009, Sonja Hubmann